Experten der EZB sehen im starken Goldpreisanstieg ein Warnsignal und warnen vor dramatischen Verwerfungen. Denn mittlerweile birgt das Edelmetall, das viele als sicheren Hafen sehen, enorme Risiken für den gesamten Finanzmarkt.
- Im Video oben: Gold-Investments im Blickpunkt - Die meisten Empfehlungen zum Investieren in Gold sind falsch
Seit 2023 steigt der Goldpreis rasant – das ist auch ein Zeichen wachsender Risikoaversion. Die Europäische Zentralbank (EZB) sieht im jüngsten Anstieg jedoch mehr als nur eine Folge geopolitischer Spannungen oder Inflation: Seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat sich der Preisanstieg noch einmal beschleunigt aus Furcht, die USA könnten auch Zölle auf den Handel mit dem Edelmetall einführen.
Dadurch entsteht ein zusätzliches Problem: Wie auch bei anderen Rohstoffen wird ein wachsender Teil der Goldnachfrage am Terminmarkt gehandelt. In Terminverträgen verpflichtet sich der Verkäufer, eine bestimmte Menge Gold zu einem festen Termin zu einem festgelegten Preis zu liefern. Der Käufer muss umgekehrt zu diesem Zeitpunkt das Gold zum festgelegten Preis erwerben - oder den Differenzbetrag zahlen.
Plötzlich unterschiedliche Preise in London und Chicago
Dass am Terminmarkt auf diese Weise zuweilen größere Mengen gehandelt werden als überhaupt verfügbar sind, war kein Problem, solange die Beteiligten ihre Gewinne einfach in Geld abrechneten. Doch in der Ära Trump hat sich das geändert: Immer mehr Marktbeteiligte wollen ihr Gold am Vertragsende, aus Sorge vor drohenden Einfuhrbeschränkungen, lieber physisch geliefert bekommen. Das führte in den vergangenen Monaten schon mehrfach dazu, dass physisches Gold an der Terminbörse in Chicago (Comex) knapp wurde. Die Verkäufer mussten deshalb Gold ganz real vom Spotmarkt in London, wo Gold physisch gehandelt und gelagert wird, nach Chicago transportieren lassen. Das löste Zusatzauskosten aus. Das Ergebnis: Die Feinunze war in Chicago zeitweilig bis zu 50 Dollar teurer als in London. Üblicherweise ist der Goldpreis an beiden Standorten gleich.
Aktuell hat sich die Lage etwas entspannt, doch die Aufsichtsbehörden wurden aufgeschreckt, wie ein aktueller Aufsatz von Fachleuten der Europäischen Zentralbank (EZB) zeigt, der Teil des kürzlich veröffentlichten Finanzstabilitätsreports der EZB ist. Darin schlagen die vier Autoren in ungewöhnlich klaren Worten Alarm: Ein plötzlicher Preiseinbruch beim Gold könne weitreichende negative Folgen für das gesamte Finanzsystem haben und „zu Nachschussforderungen und Liquiditätsengpässen“, im weltweiten Finanzmarkt führen, heißt es.
Der Absicherungs-Trade zwischen London und Chicago
Warum ein Preisunterschied zwischen beiden Börsenplatzen für die beteiligten Banken so gefährlich wird, erklärte das „Handelsblatt“ in einem aktuellen Artikel: Die sogenannten Bullion Banks, die auf den Handel und die Lagerung von Edelmetallen spezialisiert sind, lagern den Großteil ihrer Goldbestände in London, weil dort der Spotmarkt angesiedelt ist, an dem üblicherweise der Preis je Feinunze weltweit festgelegt wird.
Die Terminbörse in Chicago nutzen die Banken, um ihre Goldbestände in London gegen Preisschwankungen abzusichern – vor allem nach unten. Sie tun dies in der Regel, indem sie an der Comex Terminkontrakte verkaufen, die sie dazu verpflichten, Gold zu einem festgelegten Preis zu verkaufen. Für die Käufer dieser Kontrakte ist das aber nur attraktiv, wenn der Goldpreis steigt. Fällt der Goldpreis dagegen, kauft die Bank ihren ausgegebenen Kontrakt einfach zu einem niedrigeren Preis zurück. Der Gewinn aus dem Rückkauf gleicht den Verlust aufgrund des gesunkenen Werts des physischen Goldes aus.
Ein Problem entsteht, wenn die Goldpreise an der Comex plötzlich höher sind als in London. Dann werden die Besitzer der Kontrakte ihre Gewinne einlösen wollen. Die Bank hat dann zwei Optionen: Entweder, sie kauft ihren ausgegebenen Kontrakt zu einem viel höheren Preis zurück, als ihr eigenes Gold in London wert ist. Dann macht sie Verlust. Oder sie muss – wenn der Käufer auf der Lieferung besteht – das Gold rechtzeitig in die USA überführen, was Transportkosten verursacht.
Immer mehr Kontrakte „Noticed for delivery“
Als Donald Trump Anfang April Zölle ankündigte und unklar war, ob diese auch für Gold und Silber gelten würden,, wollten plötzlich sehr viele Vertragspartner an der Comex ihr Gold „sehen“: Sie pochten auf die physische Lieferung. Schon im Januar 2025 sei die Zahl der Goldkontrakte „noticed for delivery“ auf den höchsten Stand seit Juli 2007 gestiegen, schreibt die EZB. Doch die Banken konnten das Gold, das noch in Europa lag, nicht so schnell liefern: Transportkapazitäten wurden knapp und auch Bank of England, in deren Tresoren das Gold lagert, konnte die Anfragen nicht so schnell abwickeln, wie es die Banken brauchten. Die Folge: Der Goldpreis an der COMEX stieg an.
Goldpreis-Derivate in der Grauzone
Während Privatanleger meist nur physisches Gold halten oder im besten Fall über ETFs, die laut EZB in Europa nur ein Marktvolumen von rund 50 Milliarden Dollar haben, wird der Großteil des Goldmarkts von Gold-Derivaten dominiert, deren Marktvolumen im März 2025 laut EZB-Schätzungen allein in Europa eine Billion Dollar erreichte. Diese Summe entspreche rund 9720 Tonnen Gold und damit dem Dreifachen der weltweiten Jahresproduktion, sagte Martin Siegel vom Vermögensverwalter Stabilitas dem Handelsblatt.
Das genaue Marktvolumen ist nicht bekannt, weil es sich dabei um sogenannte Over-the-counter-Geschäfte handelt (OTC), die abseits öffentlicher Börsenplätze direkt zwischen Großinvestoren und Banken abgewickelt werden. Hedgefonds, Rohstofffonds und große Banken halten teils massive Goldpositionen, abgesichert durch Derivate, oft mit hohen Hebeln. Die EZB sieht Handlungsbedarf für Regulierer. Besonders mit Blick auf die Risikotransparenz bei Goldprodukten und -fonds sowie die Offenlegungspflichten für große Marktakteure. „Die systemische Bedeutung des Goldmarkts wächst – damit steigt auch die Verantwortung der Marktaufsicht“, so die Mahnung.
Margin Calls können „Short Squeeze“ auslösen
Bei größeren Preisturbulenzen, etwa wenn der Goldpreis schnell fällt, können sogenannte Margin Calls ausgelöst werden –Pflicht-Nachzahlungen für hinterlegte Sicherheiten, die dann nicht mehr ausreichen. „Plötzlicher Marktstress und Störungen bei der Beschaffung, Verschiffung und Lieferung von physischem Gold im Rahmen von Derivatkontrakten werfen die Frage auf, ob Gegenparteien, die zur Lieferung von physischem Gold verpflichtet sind, Gefahr laufen könnten, erhöhte Einschussforderungen zu stellen und Verluste zu erleiden“, heißt es in der EZB-Analyse. Genau dieses Szenario war 2020 im Ölmarkt eingetreten, als US-Rohölpreise aufgrund eines Überangebots am Handelspunkt xy kurzzeitig negativ wurden – mit dramatischen Folgen für Fonds und Händler.
Die EZB-Autoren fürchten, dass Vergleichbares auch am Goldmarkt passieren könnte: Wenn die Marktteilnehmer erheblichen Margin Calls ausgesetzt seien, könnten sie „Schwierigkeiten haben, geeignetes physisches Gold für die Lieferung in Derivatkontrakten zu beschaffen und zu transportieren.“ Das aber würde zu noch höheren Verlusten führen und zudem „das Risiko eines Engpasses (am physischen Goldmarkt) erhöhen“. In ausschließlich auf Englisch verfügbaren Aufsatz benutzt die EZB dabei das Wort „Squeeze“, den Begriff für eine plötzliche Preisexplosion. Marktteilnehmer etwa, die sich Gold geliehen und dann direkt weiterverkauft haben, wären gezwungen, es teurer zurückzukaufen. Dadurch würde der Preis noch weiter steigen.
In so einem Szenario könnten „Nachschussforderungen und die Auflösung fremdfinanzierter Positionen zu Liquiditätsengpässen bei den Marktteilnehmern führen, wodurch sich der Schock möglicherweise auf das gesamte Finanzsystem ausbreiten könnte“, warnt die EZB.